Störung der Form durch Funktion und Spiel mit romantischen Reminiszenzen

Die Neue Sammlung - Museum für angewandte Kunst München

Störung der Form durch Funktion – das ist der konzeptionelle Ansatz, unter dem die Schweizer Trix und Robert Haussmann, führende Vertreter der Postmoderne, die Säulenstumpf-Kommode gestalteten. Der Säulenstumpf ist Bestandteil der sogenannten Lehrstücke, einer Reihe ironisch-illusionistischer Objekte, die die zum Dogma gewordene Moderne in Frage stellen, die – zunehmend kommerzialisiert und internationalisiert – als mitschuldig an der damaligen „Ausdrucksarmut“ verurteilt wurde. Der Säulenstumpf verkörpert als „Lehrstück“ die Störung der Form durch die Funktion: Ein dorischer Säulenstumpf – nicht aus Marmor, sondern aus Holz – entspricht nicht den architektonischen Gesetzen von Tragen und Lasten. Der Säulenstumpf trägt nichts; durch die ausdrehbaren Fächer wird die Säule aufgelöst und in eine Kommode, ein Möbel zur Aufbewahrung, überführt. Die Benutzung zerstört die Form. Andererseits ist der Säulenstumpf Kunsthandwerk im eigentlichen Sinne, wodurch er den Nimbus des Exklusiven erhält. Die erstklassige Ausführung in Handwerkstechniken von höchstem Raffinement macht das Objekt – obwohl in limitierter Auflage gefertigt – nahezu zum Einzelstück.

Alessandro Mendinis vielschichtige Möbel veränderten nachhaltig das Bild des Design, und nicht nur des italienischen. Nigritella Nigra gehört zu Mendinis Kollektion „Museum Market“ von 1993, die aus 35 Arbeiten bestand. Zikkuratartig sind sechs Kästen mit nahtlos eingepassten Schubläden aufeinander gestapelt; ein streng tektonisch gebautes, auch handwerklich kunstvolles Möbelstück und zugleich ein hintersinniges Spiel mit Würdeformen, romantischen Reminiszenzen, Pracht, Raffinesse, Poesie, Sophistication. Der oberste Kasten ist mit Originalzeichnungen eines geistig behinderten Künstlers, Lucio Giudici, versehen und knüpft damit an Vorstellungen der Art Brut an. Für Mendini bedeutet die Kollektion „Museum Market“ nach vielen Jahren des Entwerfens eine Rückschau, in der er bewusst Elemente seines bisherigen Schaffens integriert. Die Kollektion ist wie ein großer Garten, durch den er geht, auf den er schaut und in dem die Objekte wie verschiedene Blumen blühen – daher auch die Verwendung der Blumennamen als Titel für die Objekte. „Nigritella Nigra“ (schwarzes Kohlröschen) ist nicht nur das bedeutendste Stück dieser Kollektion, sondern verkörpert wie kaum ein anderes Objekt seine gestalterische Haltung.

Dr. Josef Straßer

 

Abbildungen:

1 Ausschnitt: Trix und Robert Hausmann, Säulenstumpf-Kommode, 1982, Olivenesche, Maserfurnier, H. 133 cm, B. 46,5 cm, T. 46,5 cm; Herst.: Röthlisberger AG, Gümlingen, Schweiz, © Die Neue Sammlung - Museum für angewandte Kunst München

2 Ausschnitt: Alessandro Mendini, Stufenkommode Nigritella Nigra, 1993, Holz mit Laminat, Mosaik, Intarsien, Papier, H. 110 cm, B. 97 cm, T. 110 cm; Herst.: Design Gallery Milano, Italien © Die Neue Sammlung - Museum für angewandte Kunst München