Sammlung böhmisches Kunstglas des 19. und 20. Jahrhunderts. Haida – Steinschönau – Klostermühle – Karlsbad.

Sudetendeutsches Museum, München

Die Ernst von Siemens Kunststiftung erwarb für das im Aufbau befindliche Sudetendeutsche Museum in München (Eröffnung Herbst 2020) eine Sammlung von 100 Kunstgläsern aus Böhmen.

Glas wurde in den großen Waldgebieten Böhmens und Bayerns bereits seit dem 13. Jahrhundert produziert und in einem historisch gewachsenen System exportiert. Im 19. Jh. begann in Böhmen neben der Herstellung typischer, barockisierender Massenware eine Spezialisierung auf künstlerisch anspruchsvolle Gläser. Die Entwürfe dazu lieferten die beiden Glasfachschulen Steinschönau/Kamenicky Senov und Haida/Novy Bor. Wichtige Impulse kamen aus Wien, wo die Gründung der Wiener Werkstätte zu einer Neuorientierung in Kunst und Kunstgewerbe von internationaler Bedeutung führte. Die Erfolge der Wiener Künstler wirkten sich besonders im Bereich des Luxus- und Zierglases auf die beiden Glasfachschulen aus. Glasgestalter Nordböhmens entwickelten dabei einen eigenen Stil, der mit stilisierten Blütendekoren und geometrischen Ornamenten  auf transparentem Glas Elemente der Wiener Moderne mit neobiedermeierlichen Tendenzen verband und teilweise bereits zum Art-Deko-Stil überleitete. Die Umsetzung erfolgte in der altböhmischen Tradition der Kaltveredelung.

Steinschönau war bereits im späten 17. Jahrhundert ein Zentrum der Glasverarbeitung und des Glashandels. Eine wichtige Vorstufe der Glasfachschule stellte 1839 die Einführung von Zeichenunterricht als Lehrfach an der dortigen Pfarrschule dar. Diese älteste Glasfachschule in Mitteleuropa eröffnete am 31. März 1856 als Anstalt für Fachzeichnen und Modellieren und sollte mit einer technischen und ästhetischen Ausbildung ihrer Schüler Glashersteller und Raffineure fördern. Die örtlichen Glasraffinerien stellten zahlreiche Produkte nach Mustern der Fachschule her und beteiligten sich an wichtigen Ausstellungen, unter anderen in Wien, Berlin und Paris. Eine eigene Glashütte am Ort nahm erst 1886 den Betrieb auf, gefolgt von zwei weiteren 1905 und 1939. Nach der Vertreibung der Deutschen 1945 wurde am 1.4.1948 in Rheinbach bei Bonn durch ehemalige Lehrer und Schüler aus Steinschönau eine neue Glasfachschule gegründet.

Haida Der sechs Kilometer nördlich von Steinschönau gelegene, 1702 gegründete Ort entwickelte sich bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts zum Zentrum der Glasverarbeitung in Nordböhmen. 1869/70 erfolgte die Gründung der Glasfachschule, vorerst als Zeichen- und Modellierschule, bald schon als k.k. Fachschule für Glasindustrie. Ihr wurde 1909 eine kleine Glashütte mit praktischer Versuchsanstalt angegliedert. Die Zusammenlegung mit der Fachschule Steinschönau erfolgte 1926. Wie dort wirkte sich die Fachschule, besonders mit ihren Schliff- und Schnittgläsern und einer wesentlichen Erweiterung der Farbenskala prägend auf die Haidaer Industrie aus. Die künstlerischen Entwürfe wurden von Joh. Oertel & Co. verwirklicht und vertrieben und als Kunstgläser weltweit durch die Wiener Werkstätte verbreitet.

Klostermühle Die von Jean Baptist Eisner von Eisenstein gegründete Kristall-Glashütte wurde 1851 unter dem Namen Johann Loetz Witwe registriert. Unter dem Inhaber Maximilian Ritter von Spaun und dessen Geschäftsführer Eduard Prochaska entwickelte sie sich zur bedeutendsten Glashütte Böhmens. Ihre Phänomen-Gläser gewannen höchste Auszeichnungen, wie den Grand Prix auf der Weltausstellung 1900 in Paris. Über den Wiener Glasverleger Lobmeyr kam der Einfluss der Wiener Künstler um Josef Hoffmann und Kolo Moser auch in dieser Hütte wesentlich zum Tragen. Der Betrieb wurde 1947 eingestellt.

Karlsbad 1857 gründete der Glasschneider Ludwig Moser seine dortige Firma, die zunehmend an Bedeutung gewann. 1916 übernahm Leopold Moser die künstlerische Leitung und ergänzte das dort produzierte dunkelviolette Amethyst-Glas um die Herstellung von sogenannten Oroplastikgläsern – dunkelfarbige, geschliffene Gläser mit vergoldeten Bändern eines meist mit antiken Figuren geätzten Dekors. Auch Moser avancierte somit zum außerordentlichen Lieferanten der avantgardistischen Künstlergenossenschaft Wiener Werkstätte. In der Umsetzung von Entwürfen von Josef Hoffmann, Dagobert Peche und anderen entstanden Spitzenerzeugnisse des internationalen Glasdesigns. Eine Verbindung zu Haida bestand in Aufträgen für dünnwandiges Glas nach Entwürfen der Wiener Künstler, das in der Raffinerie von Jos. Oertel & Co. in Haida bemalt wurde.

Dr. Michael Henker

Abbildung:

1) Pokal, Karlsbad um 1914, Höhe 25 cm, Ø 11 cm, Hersteller: Ludwig Moser

2) (Likör-)Flasche, Helenenhütte Werner König in Haida um 1935, Höhe 15 cm, Breite 10 cm, Tiefe 6 cm

3) Deckelpokal, Fachschule Steinschönau um 1915; Höhe 24,2 cm; Dekor Adolf Beckert

4) Vase, Haida um 1935, Höhe 30,3 cm, Ø 20 cm; Hersteller: Salomon Reich