Otto Dix, Mädchen mit Schleier, 1922

Kunsthalle Mannheim

Otto Dix ist ein Protagonist jener jungen Generation, die sich nach dem Ersten Weltkrieg realitätsversessen vom Expressionismus ab- und der sie umgebenden Wirklichkeit zugewandt haben. Mädchen mit Schleier ist stilistisch bereits der Neuen Sachlichkeit zuzuordnen. Berühmt wurde Dix durch seine Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg, seinen Porträts und Darstellungen des Arbeitermilieus sowie seinen Schilderungen des großstädtischen Nachtlebens mit oft drastischen Szenen aus dem Prostituiertenmilieu.

Dix‘ ungeschönte Schilderungen sind ein Angriff auf die Verlogenheit und bigotte Moral der bürgerlichen Gesellschaft. Sie zeigen aber auch seine Identifikation mit der Position des Außenseiters, der sich, wie eine Prostituierte, ausgestoßen und entwurzelt am Rande der Gesellschaft bewegt. Vor allem jedoch sind sie ein Bekenntnis von Dix‘ großer Affinität zum weiblichen Geschlecht. Das Weibliche als erotisches Moment und Inspirationsquelle ist ein wesentliches Movens seiner Kreativität.

Mädchen mit Schleier stammt aus einem Jahr höchster Produktivität. Im Vergleich zu Dix‘ zahlreichen Akten jener Jahre ist das Mannheimer Blatt auffallend zurückhaltend. Es fehlt der schonungslos voyeuristische Blick auf alle Details des weiblichen Körpers. Vielmehr ist Mädchen mit Schleier in einer artifiziellen Tanzpose gezeigt. Die rechte Hand erhoben, hält die junge Frau in ihrer Linken ein Tuch, das Scham und Beine bedeckt. Motivisch wird damit auf die unbürgerliche Welt von Zirkus und Varieté verwiesen, in der die Schleiertänzerin die Kunst erotischer Enthüllung verkörpert.

Allerdings verschwimmen Schleier und Hintergrund derart, dass die junge Frau, einer Erscheinung gleich, im Raum zu schweben scheint. Auf Grund der Verknüpfung von Enthüllung und Erscheinung lässt sich Mädchen mit Schleier auch als Darstellung der Frau als Muse und damit als Metapher für die metaphysische Dimension der Kunst deuten, die das hinter der sichtbaren, sinnlich erfahrbaren Welt Verborgene zugänglich machen kann. Auch der regenbogenartige Hintergrund kann in diesem Sinne als Symbol für die Verbindung zwischen dem Himmlischen und Irdischen als Ausdruck des Schöpferischen gedeutet werden.

Es ist ein virtuos aquarelliertes Blatt, bei dem Dix nicht zuletzt mit dem halbtransparenten Spitzenschleier sein Können unter Beweis stellt. Der lockere Strich sowie die subtile Farbabstufung in den Schattierungen des Regenbogens geben dem Blatt seinen besonderen Reiz.

Dr. Thomas Köllhofer

Abbildung:
Otto Dix (1891-1969)
Mädchen mit Schleier
Aquarell, Tusche und Bleistift auf Papier
49,4 cm x 39,8 cm