Ostseefieber. Ein Karl Schmidt-Rottluff für Düren

Leopold-Hoesch-Museum & Papiermuseum, Düren

Im Werk des ehemaligen „Brücke“-Mitglieds Karl Schmidt-Rottluff, der sich aus dem trubligen Berlin gerne an die Ostsee zurückzog, stellt das Bild mit seiner Strandansicht ein überraschenderweise eher seltenes Motiv dar. Es zeigt drei Boote in einer bewegten See: Ein braunes liegt zwischen zwei Flussläufen noch in der Bucht, ein rotes befindet sich etwas weiter im Meer und ein weißes auf offener See. Der aufkommende Sturm scheint nicht nur den Ozean aufzupeitschen, sondern auch mit dem Horizont den gesamte Erdball. Die oberen zwei Drittel des Gemäldes – die Darstellung des zackigen Himmels, der das Meer in Bewegung bringt, die Schaumkronen aufwirft und die Segel der Schiffe aufbläht – aber sind es, die dem Bild eine über einen beschaulichen Strandaspekt hinaus Bedeutung verleihen. Denn gemeinhin wird in der Künstlervereinigung „Brücke“ die erste Avantgardebewegung der Moderne gesehen, die an der Schwelle des 20. Jahrhunderts, um „neue Ufer“ zu erreichen, mit der Kunst des 19. Jahrhunderts radikal gebrochen hätte. Auf dem Bild aber deutet Schmidt-Rottluff an, dass der Aufbruch ihrer Bewegung vor dem Ersten Weltkrieg sehr wohl in Anbindung der vorausgehenden Epochen geschehen ist (auch wenn dies die Künstler damals nicht sehen wollten).

Wer an der Ostsee anlandende oder einfahrende Schiffe malt und in die Darstellung wie auf dem roten Boot ein Figurenpaar einfügt, der spielt ganz wissentlich immer auch auf Caspar David Friedrich (1774–1840) an. Die Boote werden im übertragenen Sinne zu Lebensabschnitten und das Meer zum Dasein eines Menschen, das man in all seinen Höhen und Tiefen von Anfang bis Ende buchstäblich um alle Schwierigkeiten herum zu durchfahren hat. Schmidt-Rottluff selbst befand sich in seiner beschwingtesten Lebensphase, als er das Gemälde schuf. Er hatte seine Frau Emy 1919 geheiratet und war gefragt nicht nur am Kunstmarkt, sondern auch bei Ausstellungsmachern in den Museen. Die Untiefen des Ersten Weltkriegs lagen, als das Bild 1922 von ihm ausgeführt wurde, längst hinter ihm. Dargestellt ist dementsprechend der neuerliche Aufbruch des Künstlers genau in dem Moment seines Lebens, in dem er künstlerisch wieder „Fahrt aufgenommen“, seine Partnerin gefunden und gemeinsam mit ihr alle bis dahin lauernden Riffe umschifft hat. Es ist deshalb nicht nur als ein die Avantgardebewegung unbewusst sich selbst entlarvendes Werk der Moderne zu bezeichnen, sondern auch und vor allem ein sehr persönliches.

Dr. Roman Zieglgänsberger

Abbildung:
Karl Schmidt-Rottluff, Ostsee (Schiffe am Strand), 1922, Öl auf Leinwand, 104,5 x 126 cm
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