Max Beckmann, Selbstporträt, 1917

Staarliche Graphische Sammlung, München

Kann man dem Augenschein trauen und im Selbstbildnis sitzend, mit gefalteten Händen einzig einen übernächtigten Künstler sehen, der in sich zusammengesunken mühsam versucht, sich wach zu halten? Oder weisen die wenigen spröden Tuschfederstriche in diesem Selbstporträt aus dem Jahr 1917 über eine nüchterne Bestandsaufnahme des Sichtbaren hinaus vielmehr auf eine Introspektion Max Beckmanns? Es ist, als drängten sich für die Verweildauer eines Augenaufschlags aus den Abgründen seiner Nachtgedanken Bilder vor das innere Auge, die einen tiefen Weltschmerz entfesseln. Das würde erklären, warum den Gesichtszügen in diesem Moment das Menschliche entgleitet und sie im Schwanken zwischen äußerer Weltverachtung und innerer Zerrissenheit zu einer chimärenhaften Grimasse erstarren. Das Innerste kehrt sich nach außen, wird sichtbar und „der Mensch dem Menschen das Fremdeste“. In keiner zweiten Zeichnung aus der Zeit des Ersten Weltkriegs beschreibt Beckmann seine Kriegserlebnisse und deren posttraumatische Folgen so radikal wie hier. Sicher ist, dass Max Beckmann in diesem Meisterblatt en détail mit graphischen Kürzeln von ergreifender Bestimmtheit seine subkutanen emotionalen Erschütterungen in den Oberflächen der Gesichtslandschaft zutage fördert.

Minutiös arbeitet der Zeichner Beckmann auf den beiden Seiten eines Blattes seine Verfasstheit in zwei Porträtvarianten heraus und spitzt sie zu. Bei der signierten querformatigen Kopfstudie legt er den Fokus auf die Augenpartie. Im Zusammenspiel zwischen dem rechten halbwachen Auge und dem gebrochenen Lidschlag des linken verharrt der richtungslose, in sich gekehrte Blick im Wachschlaf. In der hochformatigen Figurenstudie dagegen streicht Beckmann eine andere Verfasstheit heraus. Hier suggeriert der Blick des Künstlers in der Zusammenschau mit den im Strich brüchigen Augenbrauen sowie den durch scharfe Linien gefurchten Schlagschatten auf der linken Wange und nicht zuletzt dem stark abfallenden schrundigen Lippenbogen eine von tiefem Misstrauen geprägte Wachsamkeit. Sie erscheint durch das lauernde Sich-zurück-lehnen und die im Schoß gefalteten, um Haltung ringenden Hände nur umso gegenwärtiger. Und doch wirkt der vorgestellte Mensch trotz der Anspannung in seinem mit wenigen Linien umrissenen übergroßen Mantel geradezu verloren. Selbst die übereinandergelegten Beine schließen sich zu keinem Halt gebenden, festen Sitzmotiv zusammen. Es scheint, als habe der Mensch und Künstler Max Beckmann in dieser knappen Skizze auch seine innere Standfestigkeit verloren, was ihn bis zur Untätigkeit lähmt.

Michael Hering

Abbildungen:
1 Max Beckmann, Selbstbildnis [verso], Feder in schwarzer Tusche, 23,9 cm x 31,7 cm
© Staatliche Graphische Sammlung, München