Jean-Simon Berthélemy, Bildnis eines Herrn mit der Büste Diderots

Staatliche Kunsthalle Karlsruhe

Ein vornehm gekleideter Herr blickt verehrungsvoll zu einer Büste Diderots empor, die neben ihm auf einem Säulenstumpf steht. Die Büste des berühmten Philosophen und Kunstkritikers (1713-1784) blickt ihrerseits dem Betrachter wie belebt entgegen. Das mag eine Aufforderung sein, es dem gemalten Herrn gleichzutun und sich mit den Gedanken Diderots zu befassen. Die geistige Zwiesprache des Unbekannten mit dem in der Büste gegenwärtigen Vorbild ist aber das eigentliche Thema des Porträts.
Auf der Säule sind die Anfangslettern einer goldenen Inschrift Op[timo] Pa[tri), (dt.: dem vortrefflichen Vater), zu lesen. Die lateinische Inschrift läßt vermuten, daß der Unbekannte das Gemälde zum Andenken Diderots kurz nach dessen Tode am 1. August 1784 in Auftrag gegeben hat. Der gerollte Ornamententwurf und die Zeichenmappe des Porträtierten weisen auf einen Architekten und Entwerfer von Innenausstattungen hin. Wahrscheinlich gehörte er zum Künstlerkreis um Diderot.
Die Züge der Büste entsprechen nahezu unverändert einem farbigen Bildnis Diderots, das Berthélemy ebenfalls im Jahre 1784 gemalt hat - ein weiteres Indiz dafür, daß das Karlsruher Gemälde kurz nach Diderots Tod entstand. Die ausgewogene Komposition und die kühlen, pastellartigen Farben des Gemäldes geben Diderots kunst-theoretischen Begriffen grace, goût und convenance (Anmut, Geschmack und Schicklichkeit) vollendeten Ausdruck.
Das Gemälde wurde erst 1984 wiederentdeckt. Es ist ein Hauptwerk des Historien- und Deckenmalers Berthélemy, eines Zeitgenossen Jacques-Louis Davids (1748-1825), und ein schönes Beispiel der beginnenden klassizistischen Bildniskunst in den letzten Jahren des Ancien régime.

Anja Eichler

Abbildung:Jean-Simon Berthélemy (1743 - 1811), Bildnis eines Herrn mit der Büste Diderots, 1784, Öl auf Leinwand; 124 x99 cm, © Staatliche Kunsthalle Karlsruhe