Henry van de Velde, Grafikschrank, 1898/1899

Klassik Stiftung Weimar

Als der Grafikschrank im Jahr 2017 auf dem Brüsseler Flohmarkt „Jeu de Balle“ zum Verkauf angeboten wurde, war das Erstaunen in der Fachwelt groß. Denn bei dem „meuble à estampes“ handelt es sich um eine unbekannte Variante des Prototyps, den der belgische Kunstreformer Henry van de Velde 1899 in seinem Geschäftskatalog beworben hatte.
Die Kritik an Kunst und Gesellschaft hatte den studierten Maler um 1893 zur angewandten Kunst geführt. Mit neuen Formen wollte er den rückwärtsgewandten Stil seiner Zeit überwinden und eine moderne Lebenswelt schaffen.
In diesem Sinne verzichtete er bei dem Grafikschrank auf „aufgeklebten“ oder gar figurativen Schmuck und nutzte konstruktive Elemente wie die Fußstützen oder Beschläge für eine abstrakte Ornamentik. Er folgte dabei seinem Credo „die Linie ist eine Kraft“, davon ausgehend, dass die visuelle Dynamik anschwellender Profile die Nutzer inspiriere.
Folglich fließen auch die Seitenpfosten des Grafikschranks jugendstiltypisch vegetabil in die Deckplatte über. Der dreiteilige Korpus mit sechs teils verglasten Türen und einem versenkbaren Aufsteller für die Präsentation von Grafiken oder großformatigen Büchern ist im Inneren mit ölhaltigem Zedernholz zur Abwehr schädlicher Insekten ausgekleidet.

Prominente Käufer wie Julius Meier-Graefe, Eberhard von Bodenhausen oder Ludwig Loeffler erwarben das in Brüssel u.a. von der Société Henry van de Velde zwischen 1897 und 1900 hergestellte Modell, von dem rund zehn Exemplare in verschiedenen Varianten und Hölzern überliefert sind.
Die drei erhaltenen Grafikschränke befinden sich heute im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg bzw. in Münchner Privatbesitz und in den Kunstsammlungen Chemnitz. Der Grafikschrank ergänzt die mit vergleichsweise wenigen frühen Werken ausgestatten Weimarer Bestände. Das ornamental geprägte Sammlungsmöbel erzählt anschaulich von Henry van de Veldes Weg in die Moderne.

Sabine Walter

 

Abbildung:

Henry van de Velde (1863 - 1957), Grafikschrank, 1898/99, Dauerleigabe an die Klassik Stiftung Weimar, ausgestellt im Museum Neues Weimar.

Inv.-Nr. DKg-2017/416
©VG Bild-Kunst, Bonn / Fotograf: Frank Funke, Klassik Stiftung Weimar.