Eurydike (M. Denis)

Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin

Als Achtzehnjähriger hatte Maurice Denis 1888 die Gruppe der Nabis mitbegründet, deren Programm sich von Paul Gauguin herleitete und deren Manifest er zwei Jahre darauf formulierte: „ein Bild ist […] vor allen Dingen eine ebene Fläche, mit Farben in einer bestimmten Ordnung bedeckt.“ Die Besinnung auf die formale Bildordnung bedeutet aber keine Gleichgültigkeit gegenüber Inhalten: einen Großteil seines Werkes widmetet der Künstler einer modernen christlichen Kunst. Seine Welt ist bis in die ersten Jahre unseres Jahrhunderts vorwiegend arkadisch. Die Landschaft bleibt bis in das Spätwerk unentbehrlich, zumeist als bindendes und strukturgebendes Grundmuster mehrfiguriger Bilder.

Dies gilt auch für das rückseitig als „Eurydice“ bezeichnete Gemälde, welches vor 1905 entstand.

Ein irritierender Widerspruch beherrscht die Komposition, die an der Küste der Bretagne entstanden sein mag, wo Denis ein Landhaus besaß. Vor der grün und tiefblau, mäßig bewegten Wasserfläche, die ein hoher Horizont ruhig abschließt, steigen raumbildent nur die Baumgruppen auf – die vordere einem Keil ähnlich, der die Mittelachse des Bildes anzeigt. Im Gegensatz zu diesen stabilen Bildelementen bleiben Gelände und Figuren in ihrem Verhältnis zueinander unbestimmt und schwankend. Ein Hügel, ein Hochufer werden durch eine tiefe, von recht nach link eingeschnittene Schlucht geteilt, dahinter leuchtet ein Stück hellbesonnten Strandes auf. Den ganzen Vordergrund bestimmen Farbstufen zwischen Zitronengelb, Weiß, Orange. Diese Chromatik ist der von Paul Gauguin und Vincent van Gogh verwandt – und weist voraus auf Henri Matisse (1869-1954) und André Derain (1880-1954).

Unruhig-ahnungsvoll erscheint auch das Geschehen. Man sieht erschrockene, schutzsuchende Frauen – dreimal Eurydike: sie entflieht dem dunklen Graben (der Unterwelt ?), wird, zusammenbrechend, gestützt, wirft sich an die Brust eines Jünglings mit gelbem Gärtnerhut, der sich nach ich umdreht – ist er Orpheus, und ist dies der Augenblick des zweiten Abschiedes und der letzten Trauer? Links erschlägt ein Mann eine Schlange: eine Schlange war es, die Eurydike den Tod brachte. Alles bleibt ungewiss. Im Hintergrund aber ist Sonne und Frieden über den Bandenden.

Claude Kleisch

Abbildung: ©Alte Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin
Maurice Denis (1870-1943)
Eurydike / St. Germain-en-Laye, vor 1905
Öl / Leinwand, 75,5 x 116,8cm
Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin