Ernst Ludwig Kirchner, Selbstbildnis als Kranker, 1918/1925

Pinakothek der Moderne, München

Ernst Ludwig Kirchner scheint dem Abbild der eigenen Person zurückhaltend, ja scheu gegenüber gestanden zu haben, da in seinem Œuvre gerade 15 Selbstporträts festzustellen sind. „Selbstbildnis als Künstler“ ragt daher aus dem Werk des Künstlers heraus, zumal es eine schonungslose Selbstbetrachtung in einem Moment der Krise und des Zweifels ist. Tatsächlich ist es – obgleich wohl das persönlichste Bild im gesamten Schaffen des Malers – nur mit „Der Trinker“ (heute: Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg) und „Selbstbildnis als Soldat“ (heute: Allen Memorial Art Museum, Oberlin/Ohio) zu vergleichen, die beide 1915 entstanden. In „Selbstbildnis als Kranker“ porträtiert sich Kirchner bettlägerig in einer Graubündner Bauernstube. Der Kopf ist nach rückwärts aus dem Bildraum geneigt und einem imaginären Besucher zugewandt. Die rechte Hand wird in einer Geste des Erschreckens zum Mund geführt, das Gesicht ist grün vor Angst. Das Gemälde ist eine Momentaufnahme seelischer Zerrüttung, wie sie Henry van de Velde anlässlich eines Besuches bei Kirchner 1917 beschrieb: „In Davos fand ich einen abgemagerten Menschen mit stechenden fiebrigen Augen, der den nahen Tod vor Augen sah. Er schien entsetzt, mich an seinem Bett zu sehen, seine Arme presste er konvulsiv an die Brust“. Auch wenn diese Worte das Gemälde zu beschreiben scheinen, ist es wohl später entstanden. Kirchner hatte seit 1917 oft die Gegend um Davos aufgesucht, um einen Weg aus der durch den Ersten Weltkrieg ausgelösten, seelischen Krise zu finden. Im September 1918 zog er in das Haus „In den Lärchen“ oberhalb von Frauenkirch. Zum Mobiliar gehörte das im Bild dargestellte Bett. Eine erste Datierung mit 1918 ist daher plausibel. „Selbstbildnis als Kranker“ kommt die Bedeutung eines einzigartigen Kunstwerks zu, in dem Biographie und dramatische Zeitgeschichte exemplarisch zusammenfließen. Nach dem Rückzug aus der Großstadt Berlin in die Schweiz, mehr noch aus einer Welt, die mit dem Ersten Weltkrieg dem Untergang zusteuerte, spiegelt das Gemälde über das persönliche Befinden hinaus die Verlorenheit und das Fremdsein eines expressionistischen Lebensgefühls, das sich in seinen utopischen Hoffnungen getrogen sah. In der Schweiz suchte Kirchner einen Neubeginn für sich selbst. So markiert „Selbstbildnis als Kranker“ einen Wendepunkt im Schaffen des Künstlers. In der Pinakothek der Moderne bildet das Gemälde nun das Schlüsselwerk in einem dem Schaffen Kirchners gewidmeten Saal.

Reinhold Baumstark

Abbildung:

Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938), Selbstbildnis als Kranker, 1918/1925
©Pinakothek der Moderne, München