Die Geißelung Christi (Karlsruher Passion), Meister der Karlsruher Passion, um 1455

Staatliche Kunsthalle Karlsruhe

Im Zentrum der Komposition steht Christus, bis auf das Lendentuch entblößt und an eine Säule gebunden. Von links schlagen grobe Folterknechte auf den Gottessohn ein, so dass das Blut in langen Bahnen an seinem zarten Körper zu Boden läuft, wo es sich in kleinen Lachen sammelt. Der übergroße Kopf Christi ist zur Seite geneigt, in den Gesichtszügen spiegelt sich weniger der physische Schmerz als die Trauer über die Sündhaftigkeit der Menschen. Rechts im Bild sieht man, mit spitzem, breitkrempigem Hut und auffällig gemustertem Gewand, den römischen Landpfleger Pilatus. Er flüstert einem der Peiniger eine Anweisung ins Ohr: Vielleicht gebietet er den Abbruch der Geißelung, um zu verhindern, dass Christi Tod in seinem Palast eintritt. Zu seinen Füßen betrinkt sich ein Scherge, dessen moralische Verworfenheit schon in seiner nachlässigen Kleidung zum Ausdruck kommt.

Drei kleine Prophetenfiguren in den Zwickeln der Doppelarkade verweisen auf den typologischen Zusammenhang des neutestamentlichen Heilsgeschehens mit dem Alten Testament. Die Körperhaltung Christi entspricht, mit Ausnahme der Arme, einem verbreiteten Typus des Gekreuzigten und weist damit auf den Höhepunkt der Passionsgeschichte hin. Die „Geißelung Christi“ ist Teil der so genannten „Karlsruher Passion“. Von diesem Gemäldezyklus, der vermutlich um 1455 für die Stiftskirche St. Thomas in Straßburg entstanden ist, sind sieben Tafeln bekannt. Ursprünglich umfasste er vielleicht zwölf, zu einem nicht wandelbaren Schaubild gefügte Tafeln. Die Karlsruher Passion ist ein überragendes Zeugnis spätgotischer Malerei am Oberrhein und zugleich ein ergreifendes Denkmal der Passionsfrömmigkeit im 15. Jahrhundert. Fünf Tafeln gelangten zwischen 1858 und 1957 in die Kunsthalle Karlsruhe; bereits 1928 wurde dem unbekannten Künstler, dessen Identifizierung mit Hans Hirtz unsicher bleibt, der Notname „Meister der Karlsruher Passion“ gegeben. Eine sechste Tafel gehört zum alten Bestand des Wallraf-Richartz-Museums in Köln. Die nun für Karlsruhe erworbene „Geißelung Christi“, deren Verbleib von 1902 bis 1998 im Unklaren war, schließt eine Lücke in der eindringlichen und anrührenden Bilderzählung. Sie ist zudem außergewöhnlich gut erhalten: Nachdem der vergilbte Firnis abgenommen worden ist, kommt ihre leuchtende und differenzierte Farbigkeit wieder aufs Schönste zur Geltung.

Holger Jacob-Friesen

Abbildung:

Die Geißelung Christi, Meister der Karlsruher Passion, Straßburg, um 1455
©Staatliche Kunsthalle Karlsruhe