Der Gral

Bayerische Nationalmuseum, München

In der Epoche des Historismus erlebte die Münchner Goldschmiedekunst eine Blütezeit. Auf den großen Kunst-gewerbeausstellungen präsentierten die führenden Werkstätten neben Gebrauchssilber vor allem prunkvole Schauobjekte in der Art früherer Jahrhunderte. Eigens für die Pariser Weltausstellung 1900 schuf der Münchner Hofgoldschmied Theodor Heiden einen ungewöhnlich anspruchsvollen Tafelaufsatz, für den der Entwerfer Anton Seder die Grals-Sage als Motiv gewählt hatte.

In Aufbau und Stil ebenso wie in Reichtum und meisterlicher Bearbeitung kostbarer Materialien wurde bewußt der Tafelschmuck der Spätgotik und Renaissance als Vorbild genommen. Der Tafelaufsatz verbindet unterschiedliche Gefäßtypen zu einer neuen Einheit. Besonders aufwendig gestaltete Theodor Heiden die von drei Engeln gehaltene Gralsburg Montsalvat mit ihrem von Edelsteinquadern durchsetzten Mauerwerk, den von Smaragdsäulen getragenen und von einer beidseitig emaillierten Kuppel überwölbten Gralstempel sowie die von goldenen Rebenranken mit Saphirtrauben einge-faßte Nephritschale, über der als Christussymbol ein Fisch in Goldemail mit herabhängenden Rubintropfen schwebt.

Wie Richard Wagner in seinem 1882 uraufgeführten Bühnenweihfestspiel Parsifal verschmolzen Seder und Heiden in ihrem Tafelaufsatz Motive aus unterschiedlichen Bearbeitungen des mittelalterlichen Grals-Mythos zu einer beziehungsreichen Schöpfung, die unter dem Leitgedanken der Erlösung durch Christi Opfertod steht. Die eindrucksvolle Verbindung eines geistvollen künstlerischen Entwurfs mit höchster handwerklicher Virtuosität kennzeichnet diesen „Gral" als ein Meister-werk, das in der deutschen Goldschmiedekunst um 1900 kaum seinesgleichen findet.

Michael Koch

Abbildung: Der Gral Tafelaufsatz; Entwurf: Anton Seder (1850-1916) Ausführung: Theodor Heiden (1853-1928) München, 1899 - 1900 Gold, Silber vergoldet, Diamanten, Rubine, Smaragde, Saphire und andere Edelsteine; Email; Nephrit; H. 60,7 cm, B. 41,2 cm, Durchmesser der Schale 21 cm; Signaturen am Rand des Burgsockels , © Bayerische Nationalmuseum, Bastian Krack