Anatomische Venus (P. Klee)
Städtische Galerie im Lenbachhaus, München
Auf ein schmales Hochformat zusammengepresst und in den düsteren Hintergrund eingeschmolzen, scheint die amorphe Figur der „Anatomischen Venus“ wie ein Embryo im eigenen Gallert zu schweben. Hinter der pastos geschichteten Wachskreide des dunkelbraunen Untergrundes schimmert bisweilen eine bläulichviolette Grundierung auf, dieselbe Farbe ist auch in wichtigen Partien der Figur am Kopf und im aufgeblähten Leib eingesetzt. Der Rest der Gestalt scheint in zirkulären Farbschichten von dunklen Gras- und Erdtönen in der Enge vom Zentrum her aufzuwachsen, im Entstehen begriffen und zugleich schon dem Absterben geweiht. „Bei der Betrachtung treten einige Komplexe deutlicher in Erscheinung: der elliptische „Leib“ im Zentrum, der als Schneckenform ausgebildete ‚Kopf‘ mit dem blind erstarrten Auge oben und der kraftlose, zangenartige Fortsatz unten […]. Das Molluskelartige konterkariert den Begriff des Anatomischen, das Monströse den der weiblichen Schönheit. Die Kategorie von Wissenschaft (Anatomie) und Kunst (Venus) sind so gleichsam außer Kraft gesetzt, während das Hintergründige bzw. Abgründige der Darstellung ihren Fetischcharakter pointiert (Zweite, S. 20).
Bei der Missgestalt der Figur, die den Todeskeim bereits in sich trägt und trotz dieser Absage an alle Gesetze der Schönheit in ihrem Titel „Anatomische Venus“ überkommene kulturelle Werte des Abendlandes wie in einer Travestie verhöhnt, ist man geneigt, diese Darstellung Paul Klees als einen verschlüsselten Reflex auf die Ereignisse des Jahres 1933 anzusehen. Klee wurde im April 1933 auf Anordnung der Nationalsozialisten von der Düsseldorfer Akademie entlassen und kehrte Ende des Jahres in seine Schweizer Heimat zurück. „Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten setzte sich Klee in einem viele Zeichnungen umfassenden Zyklus auseiander. Obwohl es naheliegen würde, ‚Anatomische Venus‘ aufgrund ihres anschaulichen Charakters auf diese Geschehnisse zu beziehen, bleiben die Analogien unbestimmt und sind […] allenfalls in der insgesamt bedrohlichen Stimmung auszumachen, die die Darstellung evoziert“ (Zweite).
Annegret Hoberg
Abbildung: ©Städtische Galerie im Lenbachhaus, München
Paul Klee (1879-1940
Anatomische Venus, 1913
Wachskreide / Pastell auf braun grundierter Leinwand, 52 x 19,2cm
Städtische Galerie im Lenbachhaus München